Wie man ungeahnte Perspektiven gewinnt

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Wie man ungeahnte Perspektiven gewinnt

Lukas 13,10–17 (BB)
10 Als Jesus einmal am Sabbat in einer der Synagogen lehrte,
11 war dort eine Frau. Seit achtzehn Jahren wurde sie von einem Geist geplagt, der sie krank machte. Sie war verkrümmt und konnte sich nicht mehr gerade aufrichten.
12 Als Jesus sie sah, rief er sie zu sich und sagte zu ihr: »Frau, du bist von deiner Krankheit befreit!«
13 Und er legte ihr die Hände auf. Sofort richtete sie sich auf und lobte Gott.
14 Aber der Leiter der Synagoge ärgerte sich darüber, dass Jesus die Frau an einem Sabbat heilte. Deshalb sagte er zu der Volksmenge: »Es gibt sechs Tage, die zum Arbeiten da sind. Also kommt an einem dieser Tage, um euch heilen zu lassen – und nicht am Sabbat!«
15 Doch der Herr sagte zu ihm: »Ihr Scheinheiligen! Bindet nicht jeder von euch am Sabbat seinen Ochsen oder Esel von der Futterkrippe los und führt ihn zur Tränke?
16 Aber diese Frau hier, die doch eine Tochter Abrahams ist, hielt der Satan gefesselt – volle achtzehn Jahre lang! Und sie darf am Sabbat nicht von dieser Fessel befreit werden?«
17 Als Jesus das sagte, schämten sich alle seine Gegner. Doch die ganze Volksmenge freute sich über die wunderbaren Taten, die Jesus vollbrachte.

2.​ Wie man ungeahnte Perspektiven gewinnt

Die verkrümmte Frau – Lukas 13,10–17

Was für eine Geschichte!
Eine Frau läuft 18 Jahre lang verkrümmt durch die Welt.
18 Jahre … das galt damals als Dauer einer ganzen Generation.
18 Jahre von einem Geist verkrüppelt war. Sie war gebückt und konnte sich nicht aufrichten"
18 Jahre lang lebt die Kranke nicht »aufrecht«,
18 Jahre lang schaut sie nicht nach vorne, sondern auf ihre Füße, nicht nur nach unten, sondern vor allem nach »innen«, auf sich selbst.
18 Jahre lang unter quälenden Schmerzen durchs Leben zu gehen, unfähig, auch nur die Augen zu heben, um ein Gespräch zu führen.
18 Jahre lang war sie doppelt gekrümmt und konnte sich nicht aufrichten.
Ja, diese Frau sieht – im wahrsten Sinne des Wortes – nur noch sich selbst. Das bedeutet zugleich: Dadurch wirkt sie für andere viel kleiner, als sie in Wirklichkeit ist. Und auch ihre Wahrnehmung der Welt ist begrenzter, als sie sein müsste.
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Wenn das kein Bild für eine Institution ist, der Kritiker seit langem vorwerfen, sie kümmere sich vor allem darum, ihren eigenen Betrieb am Laufen zu halten.
Der Zeit-Redakteur Tilmann Prüfer jedenfalls erklärt sehr direkt: »Die evangelische Kirche ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt.«
Kommentar der Redakteurin Dana Weber in der OVZ am 28.10.2022, der aber einige sachliche Fehler hat:
Altenburg. Die Zahl der evangelischen Christen im Kirchenkreis Altenburger Land sinkt. Dieser Prozess scheint unaufhaltsam zu sein. Auch die Zahl der Pfarrerinnen und Pfarrer ist rückläufig. Die verbliebenen Hirten müssen weitläufigere Gebiete betreuen. So übernimmt die Meuselwitz-Luckaer Pfarrerin Ulrike Schulter ab November die Kirchgemeinde Rositz mit. Das ist mit viel zusätzlicher Fahrerei verbunden, die Zeit und Kraft kostet. Umstände, die weniger Spielraum für ihre eigentliche Profession lassen – Seelsorge und soziales Engagement. Gerade in Zeiten wie diesen kann eine Glaubensgemeinschaft Menschen Halt geben.
Kirche muss Ehrenamt mehr unterstützen
Damit das auch funktionieren kann, brauchen die Ehrenamtler in den Kirchgemeinden mehr Unterstützung von Seiten ihrer Kirche. Denn viele verwaltungstechnische Aufgaben liegen in den Händen Ehrenamtlicher. Und wofür sich keine Gemeindemitglieder motivieren lassen – das bleibt dann zwangsläufig an Pfarrerin oder Pfarrer hängen. Verfolgt die evangelische Kirche Thüringens diesen Weg weiterhin, wird früher oder später nicht mehr viel übrig bleiben von dieser basisdemokratischen, ehrenamtsverfassten Kirche. Sie wäre gut beraten, die Arbeit ihrer Ehrenamtlichen und Pfarrer deutlicher zu unterstützen. Festangestellte Mitarbeiter für diverse Arbeitsgebiete wären da schon ein guter Anfang. Denn sonst kann es passieren, dass sich die evangelische Kirche Thüringens irgendwann zu Tode spart.
Nach innen schauen, die Weite der Möglichkeiten nicht mehr wahrnehmen, sich um sich selbst drehen, mit eingeschränktem Horizont leben: Für all diese Phänomene steht die verkrümmte, Frau, die vor 2000 Jahren in einer Synagoge auf Jesus trifft.
Übrigens hat diese Heilungsgeschichte schon damals das »Wieder-Aufrichten« einer ganzen Institution im Blick: Die Entwicklung der Handlung macht deutlich, dass es hier um ein verkrümmtes Selbstbild von Gemeinde geht. Dieses wird durch den Synagogenvorsteher (dem örtlichen Vertreter der Institution) symbolisiert, der die Anwesenden nach dem Wunder heftig anschnauzt, wie sie es denn wagen könnten, gegen die Traditionen des religiösen Betriebs (die bestimmte Heilungen am Sabbat verbieten) zu verstoßen. So endet das Ganze in einer Diskussion darüber, dass eine Glaubensgemeinschaft sehr wohl die Konzentration auf das Wesentliche verlieren kann, wenn sie nur noch ihre internen Abläufe sieht – eben, weil sie in sich »verkrümmt« ist.
Es ist dabei wichtig, dass wir den Synagogenvorsteher als Vertreter einer festgefahrenen Institution sehen und nicht als allgemeinen Repräsentanten des Judentums. Jesus hat regelmäßig betont, dass er sich als Gesandter für das Volk Gottes versteht. Das heißt: Er denkt und handelt niemals antijudaistisch, sondern bekämpft grundsätzliche menschliche Fehlentwicklungen, die Gottes Heilshandeln im Wege stehen. Genau deshalb werden oftmals auch die Jünger als negatives Beispiel angeführt: Sie sind es, die Kindern, Notleidenden und Fremden den Zugang zu Jesus durch ihr Verhalten erschweren.
Lukas 13,10–17 BB
10 Als Jesus einmal am Sabbat in einer der Synagogen lehrte, 11 war dort eine Frau. Seit achtzehn Jahren wurde sie von einem Geist geplagt, der sie krank machte. Sie war verkrümmt und konnte sich nicht mehr gerade aufrichten. 12 Als Jesus sie sah, rief er sie zu sich und sagte zu ihr: »Frau, du bist von deiner Krankheit befreit!« 13 Und er legte ihr die Hände auf. Sofort richtete sie sich auf und lobte Gott. 14 Aber der Leiter der Synagoge ärgerte sich darüber, dass Jesus die Frau an einem Sabbat heilte. Deshalb sagte er zu der Volksmenge: »Es gibt sechs Tage, die zum Arbeiten da sind. Also kommt an einem dieser Tage, um euch heilen zu lassen – und nicht am Sabbat!« 15 Doch der Herr sagte zu ihm: »Ihr Scheinheiligen! Bindet nicht jeder von euch am Sabbat seinen Ochsen oder Esel von der Futterkrippe los und führt ihn zur Tränke? 16 Aber diese Frau hier, die doch eine Tochter Abrahams ist, hielt der Satan gefesselt – volle achtzehn Jahre lang! Und sie darf am Sabbat nicht von dieser Fessel befreit werden?« 17 Als Jesus das sagte, schämten sich alle seine Gegner. Doch die ganze Volksmenge freute sich über die wunderbaren Taten, die Jesus vollbrachte.
Man könnte sogar sagen, dass es in Heilungsgeschichten oft um das Aufeinandertreffen zweier Prinzipien geht: das lebendige Wort Gottes gegen die vielen menschlichen Verkrustungen.
Insofern haben beiden Teile dieser Erzählung aus dem Lukasevangelium das gleiche Thema: Was muss passieren, damit etwas »Verkrümmtes« (die Frau und die Institution) wieder »gerade« werden, damit »Innen-Orientiertes« wieder »außen-orientiert« wird, damit etwas »Mit-sich-selbst-Beschäftigtes« wieder »über den Tellerrand« blicken und die Weite des Glaubens wahrnehmen kann? Damit sozusagen ein »umgekehrter Hexenschuss« stattfindet? – Schauen wir uns das mal an.
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Folgende Begebenheit soll einmal in einer amerikanischen Kirchengemeinde passiert sein:
Ein Pastor war das erste Mal in der Gemeinde als Vakanzvertretung tätig. An einem Sonntagmorgen vor dem Gottesdienst rasierte er sich nicht, duschte nicht und putzte auch seine Zähne nicht. Er zog seine schlechtesten Klamotten an, die er fand. Sie waren schmutzig, fleckig, abgenutzt und rochen auch, weil sie eigentlich in dem Müll sollten. Dann ging er in ein Geschäft (in Amerika sind die Geschäfte auch sonntags geöffnet) und kaufte eine Flasche Bier und lieh sich einen Einkaufwagen. Er füllte den Wagen mit Kartons, Aluminiumdosen und anderen Müll. Und dann schüttete er das Bier über seine Kleidung. Dann etwa 5 Minuten vor dem Gottesdienst schob er langsam seinen Wagen bis vor die Tür der Kirche. Dort kramte er für eine Minute im Einkaufswagen herum, ging dann in die Kirche und setze sich ganz ruhig auf die hinterste Bankreihe. Man hätte jetzt in der Kirche eine Stecknadel fallen hören können. Natürlich erkannte niemand den Pastor. Das Einzige, was die Leute sahen, war einen Penner, der auf der hintersten Bankreihe sitzt, und der einen penetranten Gestank an sich hatte! Es war schrecklich.
Schließlich ging einer vom Begrüßungsdienst der Gemeinde zu ihm und sagte dem Mann, dass er gehen müsse. So tat er es auch. Er stand auf und ging wieder zur Tür hinaus. Über die Seitentür der Kirche kam er dann wieder in die Sakristei herein und wartete etwas versteckt, bis er zu predigen dran war. Dann trat er auf die Kanzel, um in der Verkleidung des Obdachlosen zu predigen.
Wie hätten wir in dieser Situation gegenüber dem “Penner” reagiert? Vielleicht auch so, wie die Kirchgemeinde - als gut situierte Wohlstandschristen, als Menschen, die sich in ihrem Leben gut eingerichtet haben, sicher auch mit manchem Weh und Ach, mit manchem Leid und mancher Not. Dennoch stellen wir uns einmal die Frage: Was würde Jesus tun, wenn er an der Kirchentür gestanden hätte? Was würde Jesus tun, wenn vor seinen Füßen ein Obdachloser läge? Aber es geht nicht nur um sie, sondern um Menschen, die wie auch immer in irgendeiner Form ausgegrenzt werden, wie eben auch die verkrümmte Frau.
Um es noch extremer zu sagen, was würden wir tun? Wenn so jemand vor unserer Tür steht? Und wenn es dann sogar Jesus wäre.
Es gibt sogar ein Film von Zeljka Morawek “Der Besuch” nach einem Roman von Adrian Plass. Da kommt Jesus in eine Gemeinde - ganz anders als man ihn erwartet. Ich habe ihn gern den Konfirmanden gezeigt und mit ihnen besprochen.

Das Geheimnis der Verkrümmung

Kommen wir zum Bibeltext zurück!
Wissenschaftler überlegen seit langem, ob die verkrümmte Frau wohl eher Skoliose, Osteoporose, eine Psychoneurose oder Morbus Bechterew hatte. Antwort: Das ist für uns heute und die Geschichte irrelevant. Das Neue Testament nennt als Ursache ihres Leidens wörtlich: »Sie hatte einen Geist der Schwachheit!« Eine prägnante Formulierung, die (ähnlich wie im letzten Wunder) deutlich macht, dass hier Ursache und Wirkung fast austauschbar sind: Ist die Frau verkrümmt, weil sie schwach ist … oder ist sie schwach, weil sie verkrümmt ist?
Als Jesus die Frau sah, rief er sie zu sich und sagte zu ihr: "Frau, du bist von deinem Gebrechen befreit" (Lukas 13,12). Es ist hier etwas ganz anderes in der Art Jesu in seiner Art des Dienstes. Unter normalen Umständen sind es die Menschen, die zu Jesus kommen, um ihn zu berühren, seine Aufmerksamkeit zu erlangen, ihn um Hilfe zu bitten und ihn von ihren Krankheiten zu befreien. Aber Jesus geht aus sich heraus, um dieser Frau zu helfen. Wir lesen, dass er ihr sogar die Hände auflegt. Auch das war ungewöhnlich. Und alsbald richtete sie sich auf und lobte Gott. Zum ersten Mal seit achtzehn Jahren konnte diese Frau wieder aufstehen, und als sie aufstand, war das Erste, was sie tat, Gott zu preisen. Sie erkannte, dass das nur Gottes Werk sein konnte.
Wir fragen uns Ist die Evangelische Kirche schwach und damit auch unsere Gemeinde (ich meine, wenn ich von Evangelischer Kirche rede, immer zuerst unsere Gemeinde Vorort, nicht Kirche in Altenburg, Gera oder Erfurt), weil sie nur mit sich selbst beschäftigt ist … oder beschäftigt sie sich nur mit sich selbst, weil sie schwach ist? Das ist egal! Die entscheidende Botschaft lautet: »Das-um-sich-selbst-Kreisen« ist ein Zeichen von Schwachheit. Die Frau zumindest ist so schwach, dass es von ihr heißt: »Sie konnte sich selbst nicht mehr aufrichten!«
Ich war am vergangenen Sonntag beim 20-jährigen Jubiläum der FEG in Altenburg. Da konnte ich erleben, wie dort ein neuer Arbeitszweig in der Gemeinde, die Gemeinde unheimlich bereichert. Es ist die Arbeit mit den ukrainischen Christen. Das gibt der Gemeinde einen neuen Impuls.
Die Frau ist traurigerweise so sehr in sich verkrümmt, dass sie von sich aus gar keinen Versuch wagt, mit Jesus in Kontakt zu kommen. Viele Heilungsgeschichten im Neuen Testament erzählen davon, wie Menschen sehnsuchtsvoll auf Jesus zustürmen, weil sie sich von ihm Hilfe erhoffen. Doch diese Frau ist derart auf sich fixiert, dass sie die Quelle ihrer Rettung zwar wahrnimmt, aber nicht als solche identifiziert. Mit anderen Worten: Die Frau hört das Evangelium, erwartet aber anscheinend nicht, dass diese Botschaft für sie Konsequenzen haben könnte.
Viele Jahre gab es hier in der Nähe in Pölzig regelmäßig Gottesdienste mit Gebet um Heilung. Glauben wir das denn überhaupt noch, dass so etwas möglich ist. Und warum feiern wir dann nicht mehr solche Gottesdienste, wo wir um Heilung beten und Menschen segnen? Ich kenne hier im Altenburger Land keine Gemeinde, die explizit Gottesdienste mit Segnungsangebote macht.
Es ist schon eine herausfordernde Vorstellung auch an uns, die sich übrigens sofort auf unsere Fragestellung übertragen lässt: »Erwarte ich das eigentlich noch, dass Gott mich heilen kann?« Erwarten wir als Kirche noch, dass Gott uns heilen kann? Eine wichtige Klarstellung für alle Glaubenden … und ein nötiger Selbsttest: »Was erwarte ich von Gott?« … »Was traue ich ihm überhaupt noch zu?«
Aber schauen wir uns erst noch einmal das Geschehen in der Synagoge an. Denn es lohnt sich, jetzt ganz genau hinzugucken: »Als Jesus die verkrümmte Frau sah, rief er sie zu sich und sprach zu ihr: ‚Frau, du bist erlöst von deiner Krankheit!‘« Punkt. Mehr nicht!
Jesus spricht ein wirkmächtiges Wort, er sagt der Verkrümmten mit all seiner Vollmacht Erlösung zu … und … nichts passiert. Oh! Verrückt, oder?
Dieser kranken Frau wird vom Sohn Gottes Heilung für ihr Leiden verheißen, aber das reicht offensichtlich nicht. So, wie es anscheinend auch nicht reicht, dass jeden Sonntag in Deutschland von Tausenden von Kanzeln den Menschen die Botschaft von der Liebe Gottes verkündet wird. Das »Wort allein« scheint selbst bei Jesus nicht genug zu sein. Zumindest nicht bei einer verkrümmten Persönlichkeit, die nicht mehr damit rechnet, dass sie Heilung erfahren kann. Deren Erwartung so gering ist, dass sie inzwischen eine Art Schutzschild um sich aufgebaut hat. Es braucht mehr. Und genau das passiert jetzt auch.

Die Kunst, den anderen zu »berühren«

»Und er legte die Hände auf sie; und sogleich richtete sie sich auf und pries Gott.«
Darum geht es: Das Geheimnis dieser Heilung ist die Berührung. In dem Augenblick, in dem Jesus die Frau mit seinen Händen berührt, geschieht das Wunder. Das heißt nicht, dass man sich in allen Gottesdiensten von nun an ständig anfassen soll (wobei es nicht schaden könnte, Menschen öfter segnend die Hände aufzulegen).
Vielmehr lenkt es den Blick auf die Frage: »Wie können wir sicherstellen, dass das, was wir in der Evangelischen Kirche anbieten, die Menschen berührt?«
Und: Wann tut es das – und wann nicht?
Selbstverständlich können auch Worte allein berühren, aber nach wie vor gibt es auf vielen unserer Kanzeln vor allem (zweifellos kluge) Erläuterungen, akademisch prägnante Ergüsse oder herzige Veranschaulichungen. Diese sind jedoch selten von der Frage geleitet: »Was in diesem Predigttext und was in meiner Auslegung hat die Kraft, Menschen zu berühren und zu verändern?«
Oder um im Bild der Heilung zu bleiben: »Wie können wir den Menschen im Gottesdienst mit Worten, Gesten oder Symbolhandlungen ›die Hände auflegen‹ – und zwar so, dass sie davon ›angerührt‹ werden?«
Und: Haben wir den Mut, uns einzugestehen, dass wir in unseren Veranstaltungen viel seltener Menschen berühren, als es der Fall sein sollte?
Es ist eine der Herausforderungen (nicht nur für die Predigt, sondern für das Gottesdienstgeschehen an sich), ein neues Bewusstsein dafür zu bekommen, wie unser Tun Menschen existentiell erreicht. Es geht nicht um Informationsvermittlung, sondern um Relevanz – und um Transformation: Ist das, was wir miteinander feiern, für die Frauen und Männer, die da gekommen sind, von existentieller Bedeutung? Hat es die Kraft, etwas in ihnen zu bewegen?
Das gilt übrigens auch für unsere Geschichte von der verkrümmten Frau: Es ist relativ uninteressant, ob und wie Jesus vor 2000 Jahren einer Kranken geholfen hat, wieder aufrecht zu gehen, wenn ich es nicht glaube und erwarte: »Das so ein wundervolles Aufrichten auch mir widerfahren kann.«
Eines ist zumindest den meisten bewusst: Berührend wird ein Gottesdienst vor allem dann, wenn ich als Besucherin oder Besucher nicht nur Konsumentin oder Konsument, sondern Teilhaberin oder Teilhaber bin. Wenn es einen Unterschied macht, ob ich da bin oder nicht. »Interaktivität« heißt hierbei das Zauberwort. Natürlich kann es auch in liturgischen Formen und in gemeinsamem Gesang zu berührenden Erlebnissen kommen, trotzdem lohnt es sich immer, über weitergehende partizipative Elemente nachzudenken. Die Frage ist also: Wie wird aus der kommunikativen Einbahnstraße vom Altarraum in die Gemeinde ein Dialog, in dem die Gäste sich als prägenden Teil des Gottesdienstes erleben?
Übrigens passiert das auch in unserer Heilungsgeschichte: Indem Jesus die Frau zu sich ruft, sie anspricht und ihr die Hände auflegt, holt er sie aus ihrer passiven Rolle heraus und ruft sie in eine aktive Rolle. Während sie vorher nur erwartungslose Predigthörerin war, ist sie jetzt hoffnungsvoll in das Geschehen eingebunden – schon deshalb, weil sie dem Ruf Jesu folgt und zu ihm läuft.
Darum ist es ganz logisch, dass sie nach ihrer Heilung begeistert anfängt, Gott zu loben. Aus der passiven, in sich gekrümmten Kranken, die erst aus ihrem Schneckenhaus herausgerufen werden musste, ist eine aktive, selbstbewusste Person geworden, die sich nicht mehr darum schert, was die Leute um sie herum über sie denken. Sie fängt einfach an zu jubeln. Mitten in der Synagoge. Im Gottesdienst. Als Frau. Und ihr ist völlig egal, ob sich das so gehört oder nicht oder ob eigentlich Jesus als Prediger gerade das Wort hat; sie kann gar nicht anders, als ihrer Freude Ausdruck zu verleihen.
Jetzt mal unter uns: Wie wäre das, wenn wir und auch die anderen in unseren Gottesdiensten öfter mal aufstehen und jubeln würden, weil wir das Wirken Gottes am eigenen Leib erfahren haben? (Wir haben ja bei dem Filmgottesdienst “Die Kraft der Versöhnung” so eine Gottesdienstfeier in Ruanda gesehen - wie dort die Menschen in ihrem Gottesdienst getanzt haben. Sicher ist das ihre Kultur, aber ein klein wenig davon wäre auch nicht schlecht!)
Weil sie berührt wurden? Wir wissen: Das klingt »charismatisch«. Und wir tun uns auch schwer, wenn Menschen den Frohsinn zum Dauer-Ritual machen. Aber die »Heilung der gekrümmten Frau« zeigt: Wenn Menschen von Gott berührt werden, dann fangen sie an zu jubeln. Und das sollte in einem Gottesdienst selbstverständlich sein. Da hilft es nichts, stattdessen Loblieder zu singen, deren Botschaft die Gesichter, Herzen und Hände der gottesdienstlichen Gemeinde offensichtlich nicht erreicht.
Zur Selbsterkenntnis der Evangelischen Kirche gehört vielleicht tatsächlich auch das Eingeständnis, dass bei uns erstaunlich wenig gejubelt wird. Was möglicherweise daran liegt, dass unsere Gottesdienste oft wenig Grund dazu liefern. Diesen Umstand sollten wir schleunigst ändern.

Der evangelische Patient

Nun steht da eine beseelte Frau und freut sich aus ganzem Herzen, dass sie wieder aufrecht gehen kann. Halleluja!
Und dann passiert das - da kommt die geistliche Feuerwehr: Der Synagogenvorsteher fängt an sich zu beschweren. So wie in unseren Gemeinden vermutlich auch einige Leute verstört gucken würden, wenn jemand neben ihnen einen Freudentanz aufführen würde. Symbolisch gesprochen geschieht hier folgendes: Die geheilte Frau richtet ihren Blick weg von sich selbst (worauf der Blick ja wegen ihrer Verkrümmung 18 Jahre lang gerichtet war) hin zu Gott – doch der Vertreter der Institution holt sie zurück in die Niederungen des religiösen Betriebs. Was sich vor allem darin zeigt, dass er erstaunlicherweise weder Jesus noch die Frau angreift, sondern die ganze Gemeinde, die er mit harschen Worten daran erinnert, was sich gehört und was nicht: »Da antwortete der Vorsteher der Synagoge, denn er war unwillig, dass Jesus am Sabbat heilte, und sprach zu dem Volk: ›Es sind sechs Tage, an denen man arbeiten soll; an denen kommt und lasst euch heilen, aber nicht am Sabbattag.‹« Krach - Bumm - Da hat er es allen gegeben:
Anstatt das Wunder zu würdigen, sich mit der Frau zu freuen und sich zu fragen, ob es ihm eventuell selbst guttun könnte, den Blick frohgemut nach vorne zu richten, fängt er an, Gebote und Kirchenordnungen zu zitieren. Oder gemeindliche Traditionen. Das haben wir immer schon so gemacht - und das muss so weiter gehen. Und diese Haltung finden wir ja in unseren Gemeinden öfter, als uns lieb sein darf.
Denken wir nur daran was würde passieren, wenn man die bandscheibenzerstörende (Folter-) Bänke in Kirchen gegen bequeme Stühle auszutauschen wöllte, den Gottesdienst familienfreundlich von 9.00 Uhr auf 11.00 Uhr zu verlegen, ein nach dem Jahr 2020 komponiertes Lied zu singen oder an der Liturgie von 1853 erste Aktualisierungen durchzuführen, dann erleben wir oft sehr eindrücklich, wie sich eine an die Tradition gefesselte Kirche selbst lähmen kann. Nicht nur bei den Pfarrerinnen und Pfarrern auch bei manchen Gemeindegliedern.

Wie der Blick nach innen den Blick nach außen verhindert.

Wir reden zwar vom Aufrecht-Gehen, schauen uns aber ständig auf die Füße, beziehungsweise auf die Fußstapfen, die hinter uns liegen, anstatt den Weg zu betrachten, der vor uns liegt. Vermutlich hat Jesus deshalb den berühmten Satz vom Pflügen in die Welt gesetzt: »Wer die Hand an den Pflug legt und zurückschaut, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.« Denn es gilt: Wer eine gerade Furche im Acker ziehen will, der muss dort hingucken, wo er hinwill. Wer dagegen nach hinten oder unten schaut, der fängt an, Schlangenlinien zu laufen. Sprich: Wer das Reich Gottes bauen will, der darf sich nicht von dem beherrschen lassen, was vergangen ist.
Das klingt jetzt womöglich harsch, aber letztlich passiert in der Evangelischen Kirche und auch in unseren Gemeinden heute an vielen Stellen das, was auch Jesus damals mit diesem Vorsteher erleben musste: Tradition ist vielerorts wichtiger als »Heilung«.
Und da, wo Ansätze für heilende Prozesse erkennbar sind, werden Menschen aufgrund der kirchlichen Strukturen kritisiert oder ausgebremst. Noch einmal: Die Perspektive des hier für alle reaktionären Kräfte stehenden Synagogenvorstehers ist so eng, dass er im Grunde verkündet: »Gott darf nicht wirken, wenn er sich nicht an die vorgeschriebenen Traditionen hält.« Womit wir am Knackpunkt dieses von einer Heilung ausgelösten Konflikts wären: Die Institution ist wichtiger geworden als das Evangelium.

Schluss mit der Frevelei!

Jesus, der ja sonst in der Regel meist charmant und liebevoll agiert, ist darüber so entsetzt, dass er sein Gegenüber beschimpft: »Heuchler!« oder anders übersetzt: »Frevler« – was es ganz gut trifft, weil jemand, der im Namen Gottes gegen Gott agiert, natürlich ein Frevler ist. Aber auch der »Heuchler«-Vorwurf passt, weil Jesus anschließend erklärt: »Bindet nicht jeder von euch am Sabbat seinen Ochsen oder Esel von der Krippe los und führt ihn zur Tränke?« Womit er deutlich macht: Eventuell könnte man tatsächlich darüber nachdenken, wann welche Gebote gelten sollen – dieses Recht darf sich aber niemand herausnehmen, der solche Gebote ohnehin missachtet, wenn es um seine eigenen Belange geht.
Jesus kritisiert die Institution also in doppelter Weise: Es ist eine Schande, wenn Rituale über die Liebe gestellt werden; völlig zum Hohn wird das Ganze jedoch, wenn sich zeigt, wie sehr es hinter all diesen Regelungen menschelt und man sich zwar auf das Prinzip beruft, sich aber selbst keineswegs daranhält. Insofern ist auch die Verkrümmung eine doppelte: Die Institution nimmt sich wichtiger als Gott. Und sie betrügt sich und andere, weil sie im Bedarfsfall die Gesetze und die Tradition doch immer so auslegt, wie es ihr gefällt: »Die Liturgie ist wichtig, weil …«, »Der Gottesdienst muss immer um 10 Uhr sein, weil …« Um diese Zerrissenheit zu überwinden, muss die Kirche die Kraft entwickeln, sich ihre Verbohrtheit auch einzugestehen.
»Musste nicht diese Frau, die doch Abrahams Tochter ist, die schon achtzehn Jahre gebunden war, am Sabbat von dieser Fessel gelöst werden?« Jesus konfrontiert die Institution mit der Not der Frau, um zum Ausdruck zu bringen: Gibt es für die Kirche überhaupt eine Alternative, als alles dafür zu tun, dass Heilung möglich wird? Ganz gleich, welches sakrosankte Kirchengesetz oder welche Tradition dagegensteht? Nun, zumindest unsere Geschichte endet gut: »Als er (Jesus) das sagte, schämten sich alle, die gegen ihn waren. Und alles Volk freute sich über alle herrlichen Taten, die durch ihn geschahen.«

Wie das Reich Gottes wirkt

Wie ein guter Filmregisseur hat uns der Erzähler im Lukasevangelium erst Jesus und die verkrümmte Frau gezeigt, die beiden anschließend für das Wunder zusammengebracht und uns dann die Geheilte als Jubelnde präsentiert, bevor er das Ganze (in Form eines Stimmungsumschwungs) eskalieren lässt. Der garstige Gegenspieler taucht auf, wird aber zum Glück überwunden – und am Schluss sind alle fröhlich. Also ein Happy End!
Wesentlich für unsere Perspektive sind dabei einige zentrale Faktoren:
​Ein sich verkrümmtes System kann sich nicht selbst heilen, weil es sich dadurch definiert, dass es nur nach innen schaut. Wie in dieser Heilungsgeschichte braucht das verkrümmte System Hilfe von außen. Um es fromm zu sagen: Es muss sich von Jesus neu rufen und berufen lassen. Es muss erkennen, an welchen Stellen die Institution die Schönheit des Glaubens nicht verkündet, sondern ihr im Weg steht. Und dann den Mut haben, die Hand an den Pflug zu legen, ohne zurückzuschauen.
​Dem Ruf von Jesus muss das verkrümmte System auch folgen. Heilung und Veränderung geschehen nur aktiv, niemals passiv. So wie die verkrümmte Frau sich zum Mitwirken einladen lässt, kann ein Heilungsprozess nur gelingen, wenn der Kranke daran beteiligt ist. Das gilt auch für längerfristige Entwicklungen. Jesus erzählt im Anschluss an dieses Heilungswunder die Gleichnisse vom Senfkorn und vom Sauerteig, um den Zuhörenden deutlich zu machen: Das Reich Gottes will sich Schritt für Schritt ausbreiten, also tu das Deine dazu.
​Aufrichten muss man sich immer wieder. Darum sollte sich jede Institution, aber auch jedes Individuum regelmäßig fragen: »Stehe ich eigentlich zurzeit auf der Seite der Tradition oder der Heilung?« Geht es mir darum, liebgewordene Gewohnheiten zu bewahren, oder darum, in einer sich verändernden Gesellschaft die ständig neu zu kalibrierende Relevanz des Glaubens den jeweiligen Kommunikationsformen so anzupassen, dass Menschen davon »berührt« und »aufgerichtet« werden? Dass sie Mut bekommen, auch ihre individuelle Verkrümmung zu überwinden?
Eine Pfarrerin aus Australien hat zu einem Kollegen hier folgendes über unsere Kirche und Gemeinde in Deutschland gesagt: »Wir in Australien haben oft das Gefühl, dass ihr in Europa zu viel in ›Zäunen‹ denkt. Ja, man hat den Eindruck, bei vielen Verantwortlichen läuft durch den Kopf ein Zaun, der die Welt in zwei Gruppen teilt; diejenigen, die drin sind, und diejenigen, die draußen sind. Maßstab für alles ist die Institution. Der Blick nach innen. Deshalb definiert ihr die kirchliche Welt auch so gerne nach ›Drinnen‹ und ›Draußen‹, ›Dazugehören‹ oder ›Nicht-Dazugehören‹: Es gibt die Getauften und die Ungetauften. Die Kirchenmitglieder und die Ausgetretenen. Die Gottesdienstbesucher und die Karteileichen. Die Mitarbeitenden und die Nicht-Mitarbeitenden. Die Kerngemeinde und die Außenstehenden. Sprich: Glauben wird über die Zugehörigkeit zur Institution und das Engagement in der Institution definiert. Und für eine ›erfolgreiche‹ Gemeindearbeit gilt meist: ›Wir versuchen, so viele wie möglich von denen, die draußen sind, nach drinnen zu holen.‹ Das meine ich mit Zaun-Denken. Und mit Innen-Orientierung.«
Dann fuhr sie fort: »Bei uns im Outback gibt es Farmen, die sind so groß wie bei euch ganze Bundesländer. So lange Zäune kannst du gar nicht kaufen. Das bedeutet: Wenn du bei uns eine Herde zusammenhalten willst, dann baust du keinen Zaun – dann legst du eine Wasserstelle an. Und wenn die Tiere merken, dass dort ihr Durst gestillt wird, dann kommen sie von alleine immer wieder. So sollten auch unsere Gemeinden sein! Wie Wasserstellen.«
Dieses Gleichnis macht ein ganz anderes Bild von Kirche deutlich: Wie können wir so Gemeinde bauen, dass dort der Lebensdurst von Menschen gestillt wird? Dass sie heil werden? Dass sie spürbar verändert werden? Denn natürlich lässt sich die Vorstellung mit der Wasserstelle auch auf das Gemeindeleben übertragen. Sie ist sogar biblisch. Jesus sagt ja: »Ich bin das lebendige Wasser, wer von mir trinkt, der wird nie mehr Durst haben.« Wo Gott wirkt, da wird der Lebensdurst gestillt.
Wie wäre es, wenn wir alle Angebote unserer Gemeinden mal daraufhin überprüfen würden, ob sie wirklich den Lebensdurst von Menschen stillen?
Oder ob sie das möglicherweise nicht (mehr) tun? Ob sie von einem »Kommt nach innen«-Denken oder von einer »Wir sind für euch da«-Vision geprägt sind? Das könnte spannend werden. Es wäre der längst überfällige Perspektivenwechsel von einer in sich verkrümmten Kirche hin zu dem, der die Quelle ist.
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